Der ehemalige SPD-Vorsitzende Martin Schulz kritisiert den Plan von Fraktionschefin Andrea Nahles, sich bereits in der kommenden Woche zur Wahl zu stellen. „Diese Wahl ist für September angesetzt“, sagte Schulz der Wochenzeitung „Die Zeit“.
Der Fraktion sollte die Zeit gegeben werden, die letzten Entwicklungen zu analysieren. „Wir sollten Ruhe bewahren und die richtigen Entscheidungen zur richtigen Zeit treffen“, so Schulz weiter. Auf die Frage, ob er selbst gegen Nahles antreten werde, sagte er: „Diese Frage stellt sich zurzeit nicht.“
Auch Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil äußerte sich kritisch. „Wir haben keinen Bedarf an einer Personaldebatte“, sagte er der „Bild“. „Das lenkt von den wirklich schweren Fragen ab, was uns im Kern als Partei aus- und zukunftsfähig macht.“
Die Partei- und Fraktionsvorsitzende Nahles hatte am Montagabend überraschend vorgezogene Wahlen zum Fraktionsvorsitz für kommende Woche angesetzt. „Dann schaffen wir Klarheit“, sagte sie. Nahles kündigte an, sich erneut zur Wahl zu stellen, und forderte ihre Kritiker auf, ebenfalls zu kandidieren. Bei der Europawahl am Sonntag hatte die SPD mit 15,8 Prozent ihr bislang schlechtestes Ergebnis bei einer bundesweiten Abstimmung verzeichnet. Zeitgleich wurde sie in Bremen erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg nicht stärkste Kraft.
Kritik an vorgezogener Wahl von SPD-Landesvorsitzender
Schleswig-Holsteins SPD-Landesvorsitzende Serpil Midyatli kritisierte die innerparteiliche Debatte über den Vorsitz der SPD-Bundestagsfraktion. „Gestern hieß es noch ‚nicht so hektische Schritte und nicht so hektische Personalentscheidungen treffen‘ – mich wundert das schon“, sagte Midyatli NDR Info. Nach Ansicht Midyatlis hatte diese Personalfrage im Wahlkampf für das Desaster bei der Europawahl ohnehin keine Rolle gespielt. „Wer die Fraktion im Bundestag führt, das war keine einzige Frage am Info-Stand. … Tatsächlich ist das nicht unsere Hauptaufgabe … wichtiger ist, was wir jetzt in der Partei machen.“
Ein SPD-Fraktionsmitglied sagte am Dienstag, der Frust an der Basis sei riesig und die Zukunft von Nahles damit ungewiss: „Jetzt oder nie. Wir brauchen einen Neustart, auch personell. So kann es auf jeden Fall nicht mehr weitergehen. Für Nahles wird es knapp.“ Ein anderes Fraktionsmitglied betonte dagegen, es sei wohl vorerst nicht mit personellen Konsequenzen zu rechnen: „Ich wüsste nicht, wer da erfolgreich zur Revolution blasen will.“
Dagegen verteidigte SPD-Vize Manuela Schwesig Nahles' Vorgehen. „Mit der vorgezogenen Wahl zum Fraktionsvorsitz geht Andrea Nahles in die Offensive“, sagte die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern den Funke-Zeitungen. „Damit wird Klarheit geschaffen, anstatt ständig über Köpfe zu spekulieren.“
Auch die stellvertretende Bundesvorsitzende Malu Dreyer zeigt Verständnis für die Entscheidung von Andrea Nahles. Nachdem deutlich geworden sei, dass es viel Aufregung in der Fraktion gebe, habe sie Verständnis dafür, dass Nahles offensiv mit der Frage umgehe und die Entscheidung nach vorne ziehe, um Klarheit zu schaffen, sagte Dreyer am Dienstag in Mainz. „Wir sind uns übrigens einig, dass wir keine Personaldebatten wollen, sondern dass wir uns kümmern wollen um das, was in der SPD nach vorne zu bringen ist – und das bringt uns heute auch zusammen.“
Die zum linken Flügel gehörende Hilde Mattheis sagte im Deutschlandfunk, es sei gut, wenn die Fraktion vor der Sommerpause Klarheit habe. Gleichzeitig kritisierte sie aber, dass die inhaltliche Debatte jetzt wieder von einer Personaldebatte überlagert werde. Hinter Nahles’ Entscheidung stellte sich SPD-Bundesvize Ralf Stegner. Er twitterte am Dienstag: „Wir hatten im Parteivorstand verabredet, zügig erforderliche strategische politische Weichenstellungen zu diskutieren und nicht Personalquerelen in den Vordergrund zu rücken. Nach Herausforderung aus der Fraktion sorgt Andrea Nahles nun aber zu Recht für eine rasche Entscheidung.“
Als mögliche Kandidaten für eine Nachfolge von Nahles an der Spitze der Fraktion werden seit Tagen Ex-SPD-Chef Schulz, der Chef der NRW-Landesgruppe, Achim Post, und der Sprecher der Parlamentarischen Linken in der Fraktion, Matthias Miersch, gehandelt. Öffentlich erklärt hat sich bisher niemand.
Schulz spricht auch von den eigenen Fehlern
Schulz bezeichnet in dem Interview das aktuelle Erscheinungsbild seiner Partei als mutlos. „Uns fehlt die Bereitschaft, uns die Kapitalisten einmal richtig vorzuknöpfen – meinetwegen auch mal populistisch zu sein“, sagt der ehemalige SPD-Kanzlerkandidat. Gerechtigkeit werde nur möglich sein, wenn „die ausufernde Marktmacht von Giganten wie Google, Amazon oder Facebook“ beherzt bekämpft werde.
In dem Interview sprach Schulz auch über den Klassenkampf: „Die Sozialdemokratie wird an dem Tag wiedergeboren, an dem sie den Mut besitzt zu sagen: Der Klassenkampf, der Kampf um Gerechtigkeit, ist immer noch da, aber er wird nicht mehr national, er muss jetzt international geführt werden“, sagt er.
Gleichzeitig gestand er eigene Fehler ein. Er selbst habe zwar im Herbst 2017 schon gesagt, dass die SPD die Systemfrage wieder stellen müsse. Er habe es damals aber versäumt, „diese Frage nachhaltig und laut genug fortzuführen“. Und weiter: „Wir brauchen aber diese Debatte: energischer, selbstbewusster und vor allem europäisch!“, so Schulz.