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Berliner Mietmarkt "Besetzungen waren eine Art Amtshilfe für die rot-rot-grüne Regierung"

Bei den Hausbesetzungen in Berlin ging es darum, auf den miesen Mietmarkt aufmerksam zu machen, sagt Andrej Holm. Der Ex-Landespolitiker meint: Die Besetzer wollen umsetzen, was die Landesregierung versprochen hat.
Friedliche Blockade gegen die Zwangsräumung in der Kernhoferstraße in Berlin-Lichtenberg verhindert

Friedliche Blockade gegen die Zwangsräumung in der Kernhoferstraße in Berlin-Lichtenberg verhindert

Foto: Bjoern Kietzmann
Zur Person
Foto: imago/Christian Ditsch

Der Stadtsoziologe Andrej Holm, 47, ist einer der bekanntesten Gentrifizierungsforscher Deutschlands. Von Dezember 2016 bis Januar 2017 war Holm in der rot-rot-grünen Berliner Landesregierung Staatssekretär für Wohnen. Nach nur sechs Wochen im Amt trat er zurück: wegen Vorwürfen, er habe seinem vorherigen Arbeitgeber, der Berliner Humboldt-Universität, seine hauptamtliche Tätigkeit als Stasi-Mitarbeiter verschwiegen. Holm berät aber nun wieder die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung. Sich selbst beschreibt Holm als "parteilos, aber parteiisch für die Interessen der Mieterinnen und Mieter".

SPIEGEL ONLINE: Herr Holm, am Pfingstwochenende haben Aktivisten leer stehende Häuser in Berlin besetzt und dies sogar per Twitter kundgetan: so lange, bis die Polizei die Gebäude geräumt hat. Was war da los?

Holm: Das war eine Aktion gegen den Leerstand, gegen Wohnungsnot, steigende Mieten. Anders als bei früheren Besetzungsbewegungen ging es diesen Leuten nicht so sehr um ihre persönliche Situation. Sondern vor allem darum, aufmerksam zu machen: auf die dramatisch verschärften Wohnverhältnisse in Berlin, auf die Verdrängung aus der Innenstadt und auf die Spekulation.

SPIEGEL ONLINE: Aber das geräumte Haus in der Bornsdorfer Straße in Neukölln gehört nicht irgendwelchen Finanzhaien, sondern dem landeseigenen Wohnungsbauunternehmen "Stadt und Land GmbH".

Holm: Die rot-rot-grüne Landesregierung hat bei ihrem Start vor anderthalb Jahren im Wahlkampf versprochen, die Wohnungskrise in den Griff zu bekommen. Viele Menschen sind nun enttäuscht, sie meinen, es sei zu wenig passiert. Und das machen sie mit Nachdruck klar. Ich vermute, die Aktion sollte ganz bewusst den Finger in die Wunde legen - und zeigen, dass es sogar bei der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaft Defizite gibt. Im Grunde genommen waren die Besetzungen eine Art Amtshilfe für die rot-rot-grüne Regierung. Wir setzen das um, was ihr versprochen habt.

SPIEGEL ONLINE: Ist es denn wirklich so schlimm auf dem Mietmarkt in Berlin?

Holm: Ja. Die Preise für Neuvermietungen steigen rasant. In den vergangenen fünf Jahren ist die durchschnittliche Miete um 35 Prozent gestiegen. Im Mittel aller Stadtteile liegen wir schon deutlich über zehn Euro Nettokaltmiete pro Quadratmeter. In den innerstädtischen Gebieten sind es auch locker mal 14 oder 16 Euro. Und selbst wenn Sie bereit sind, das zu zahlen, kriegen Sie den Zuschlag noch längst nicht. Nein, da drängen sich bei der Besichtigung Menschenschlangen vor der Wohnung.

SPIEGEL ONLINE: Die Bestandsmieten gehen lange nicht so steil nach oben.

Holm: Stimmt, die durchschnittliche Bestandsmiete liegt bei 6,40 Euro pro Quadratmeter. Und diese Entkopplung von Neu- und Bestandsmieten ist ein Teil des Problems. Sie führt zu einem Umzugsstreik. Heute sehen wir pro Jahr nur noch etwa fünf bis sechs Prozent Fluktuation, weniger als die Hälfte von früher. Denn wer einen alten Mietvertrag hat, kann es sich kaum noch leisten umzuziehen. Vor zehn Jahren war das in Berlin noch möglich. Aber wenn heute eine Familie ein zweites oder drittes Kind kriegt, bleibt sie lieber in der alten Wohnung, sonst wird es für sie schlagartig viel teurer. Die Verlierer sind all diejenigen, die nach Berlin ziehen oder eine eigene Wohnung brauchen. Ganz besonders junge Erwachsene, die bei ihren Eltern ausziehen wollen. Die leiden am meisten.

Fotostrecke

Hausbesetzungen in Berlin: Räumung mit Randale

Foto: Paul Zinken/ dpa

SPIEGEL ONLINE: Die Probleme, die Sie beschreiben, gibt es auch in München, Hamburg oder Frankfurt.

Holm: Aber dort ist die Wirtschaftskraft insgesamt größer. Und Berlin war vor zehn Jahren noch bezahlbar, umso deutlicher spürt man jetzt den rapiden Anstieg. Der trifft viele Menschen aus allen möglichen Schichten. Das zeigt sich auch in der Protestbewegung. Sie ist kulturell und sozial vielfältiger - hier versammeln sich alle möglichen Altersschichten und Gesinnungsrichtungen. Ihr Protest ist pragmatisch: Die Politik soll ein konkretes Problem lösen.

SPIEGEL ONLINE: Warum ist der Berliner Wohnungsmarkt so eng geworden?

Holm: Dafür gibt es mehrere Gründe: Erstens wächst die Bevölkerung, während die Bauaktivitäten lange stagniert haben. Zweitens haben wir über Jahre hinweg ein Politikversagen erlebt: Ausverkauf des öffentlichen Wohnungsbaus, Einstellung von Förderprogrammen. Drittens hat die Finanzkrise dazu geführt, dass viel Kapital in Betongold fließt, den vermeintlich sicheren Hafen. In Berlin gab es zwischen 2009 bis 2017 Grundstückstransaktionen in Gesamtsumme von mehr als 120 Milliarden Euro. Überlegen Sie mal: 120 Milliarden!

SPIEGEL ONLINE: Wer sind die Käufer?

Holm: Natürlich gibt es private Transaktionen. Aber auffällig ist der Anteil von Finanzinvestoren, zum Beispiel Fonds, die nicht in der klassischen Wohnungsbaubewirtschaftung aktiv sind. Der Anteil der internationalen Investoren hat erheblich zugenommen. Für diese Kapitalgeber ist Berlin im Vergleich mit anderen europäischen Großstädten noch immer ein günstiger Markt. Und natürlich versuchen sie, gute Renditen mit ihren Objekten zu erwirtschaften: ganz besonders mit Eigentum. Seit 2012 werden in Berlin mehr Eigentumswohnungen angeboten als Mietwohnungen. Das ist außergewöhnlich in dieser Mieterstadt, wo etwa 85 Prozent aller Wohnungen vermietet werden. Es stellt die Strukturen auf den Kopf.

SPIEGEL ONLINE: Sie waren einst selbst Mitglied der rot-rot-grünen Landesregierung. Tut sie nicht genug?

Holm: Die Regierung nimmt das Thema ernst. Sie hat beschlossen, dass öffentlicher Grund und Boden nur an öffentliche und soziale Bauträger vergeben werden darf. In bestimmten Gebieten stoppt sie die Gentrifizierung. Und sie fördert Programme zum sozialen Wohnungsbau. Teilweise kauft sie auch Objekte aus privater Hand - wie etwa das zuletzt besetzte Gebäude in Neukölln. Aber dann war die Wohnungsbaugesellschaft mit dem Umbau überfordert. Daran zeigt sich: In der Praxis ist nicht immer alles so einfach. Das Gebäude wird nicht schnell genug saniert. Und genau auf solche Missstände weist jetzt diese Aktion hin.

SPIEGEL ONLINE: In der Landesregierung gehen die Meinungen über die Besetzung weit auseinander. Politiker von Linken und Grünen nennen sie legitim. Der SPD-Innensenator hingegen sagt, er stehe voll hinter der Räumung durch die Polizei.

Holm: Klar, es gibt Meinungsunterschiede. Aber das muss nicht negativ sein. Jede der drei Parteien hat eine eigene Agenda, das gehört zum politischen Wettbewerb. Nun müssen sie eine gemeinsame Position aushandeln - und pragmatische Lösungen finden.

SPIEGEL ONLINE: Wie könnten die aussehen?

Holm: Das bisherige Arsenal an Instrumenten müsste ausgeweitet werden. Man könnte etwa die Grundsteuer durch eine Bodenwertsteuer ersetzen. Damit würden die Steuern für unbebaute, aber bebaubare Grundstücke steigen - und Spekulation unattraktiver werden. Auch könnte man landeseigene Wohnungsbaugenossenschaften konsequenter fördern - oder darüber nachdenken, die Gemeinnützigkeit im Wohnungsbau wieder einzuführen. Die gemeinnützigen Wohnungsunternehmen waren in der Bundesrepublik bis 1989 verpflichtet, Kleinwohnungen zu bauen und diese zu beschränkten Preisen zu vermieten. Wenn das zurückkäme, gäbe es gerade in den Großstädten wieder mehr bezahlbaren Wohnraum.

SPIEGEL ONLINE: Vieles davon wäre aber wohl Bundessache. Die Große Koalition setzt lieber auf die Mietpreisbremse...

Holm: Wenn die Mietpreisbremse wirklich wirken würde, dürfte Neuvermietung im Berliner Durchschnitt nicht viel teurer sein als 7,50 Euro je Quadratmeter. Viele Vermieter umgehen sie offenbar, und vielen Mietern ist eine Klage bei dieser Lage auf dem Wohnungsmarkt zu riskant - zumal ihnen oft Informationen fehlen, was der Vormieter gezahlt hat. Die öffentlichen Wohnungsämter müssten die Mietpreissteigerungen viel stärker kontrollieren.

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