Berlin. Firmen können fast acht Prozent der Stellen nicht besetzen. Die Industrie- und Handelskammer gibt dem Trend zum Studium die Schuld.

Christopher Zebitz ist ein junger, aufgeweckter Mann. Doch vor drei Jahren saß der gebürtige Berliner verzweifelt in seiner Münchner Studentenbude und dachte über sein Leben nach: Zebitz war im dritten Semester seines Geografiestudiums. Vorher hatte er bereits in seiner Heimatstadt ein Studium der Betriebswirtschaftslehre nach anderthalb Jahren abgebrochen. „Mir fehlte die Motivation“, sagt Zebitz heute. Rückblickend habe er sich viel zu wenig mit den Inhalten seiner Studienfächer beschäftigt. „Mir war überhaupt nicht klar, warum ich das alles mache“, erklärt er. Sein Studium brach Christopher Zebitz wenig später ab. Heute ist er ausgebildeter Immobilienkaufmann.

So wie der Berliner suchen immer mehr junge Menschen nach ihrer Schullaufbahn nach Orientierung. Die Indus­trie- und Handelskammer Berlin (IHK) kritisiert, dass in den Schulen noch immer zu wenig für die Berufsorientierung getan werde. „Schule sollte nicht nur auf den Abschluss schauen, sondern auf den Anschluss“, sagt Constantin Terton, der bei der IHK den Bereich Fachkräfte und Innovation leitet.

Im vergangenen Jahr begannen fast 36.000 Menschen ein Studium an den Berliner Universitäten und Hochschulen. Nur rund 16.000 Schulabgänger hingegen entschieden sich für eine Ausbildung bei einem der Berliner Betriebe. Terton hält den wachsenden Akademisierungstrend für gefährlich. „Unser Bildungssystem qualifiziert an dem Bedarf der Unternehmen vorbei“, sagt der IHK-Mitarbeiter.

2030 werden 235.000 offene Stellen prognostiziert

Bereits heute können Unternehmen in Berlin 7,7 Prozent ihrer offenen Stellen nicht besetzen: Derzeit fehlen rund 121.000 Fachkräfte in der deutschen Hauptstadt. Nur bei 22.000 offenen Stellen sei ein akademischer Hintergrund gefragt. Für 99.000 Jobs sei hingegen eine betriebliche Ausbildung die Einstellungsvoraussetzung. Die Entwicklung wird sich laut aktuellem IHK-Fachkräftemonitor in dramatischer Weise fortsetzen: Im Jahr 2030 rechnen die Analysten der Kammer mit rund 235.000 offenen Stellen, die wegen fehlender Fachkräfte nicht besetzt werden können.

Für etwa 200.000 dieser Jobs sei dann eine abgeschlossene Ausbildung gefragt und kein Studium. „Es ist absolut kontraproduktiv, Jugendlichen zu suggerieren, ein Studium sei grundsätzlich höherwertiger als eine duale Ausbildung“, sagt auch die Berliner IHK-Präsidentin Beatrice Kramm.

Firmen bemühen sich gezielt um Studienabbrecher

Immer mehr Berliner Firmen nehmen bei der Besetzung ihrer Ausbildungsplätze deswegen andere Bewerbergruppen in den Fokus. „Wir beobachten, dass die Zahl der Unternehmen, die sich gezielt um Studienaussteiger bemühen, in den vergangenen Jahren zugenommen hat“, sagt Thilo Pahl, IHK-Geschäftsführer für Bildung und Beruf. Während 2010 nur zehn Prozent der Unternehmen Studienabbrecher angesprochen haben, sei es jetzt schon jede zweite Firma. Auch umgekehrt sei das Interesse gestiegen: Etwa ein Drittel der Studienabbrecher beginnt im Anschluss eine duale Ausbildung.

Christopher Zebitz arbeitete nach seiner Rückkehr aus München bei einem Bauunternehmen. Eines Tages entdeckte er in der U-Bahn die Werbung für das IHK-Programm „yourturn“, das sich an Studienabbrecher wendet. Weil die früheren Studenten Leistungen aus dem Hörsaal anrechnen lassen können, verkürzt sich die Ausbildungsdauer von 36 auf 18 Monate. Zebitz begann eine Lehre als Immobilienkaufmann. „Die Ausbildung hat mir das gegeben, was mir im Studium gefehlt hat“, sagt der 30 Jahre alte Makler.

Finanzielle Perspektive nach Ausbildung teilweise besser

„Viele Studenten brechen ihr Studium ab, weil sie lieber etwas Praktisches machen möchten oder weil sie grundsätzlich am Sinn des Studiums zweifeln“, sagt Thilo Pahl. Vor allem an den Gymnasien müsse deshalb die berufliche Orientierung ausgebaut werden. „Unter Umständen kann man den jungen Menschen dann die Extrarunde über die Hochschule ersparen“, erklärt er.

Vielen jungen Leuten sei zudem nicht klar, dass finanzielle Perspektiven nach einer Lehre mitunter besser seien als bei akademischen Berufen. Der IHK-Geschäftsführer rechnet vor: „Ein Archäologe in der Forschung verdient zum Beispiel 2200 Euro im Monat, ein dual ausgebildeter Industriemechaniker dagegen 2500 Euro.“ Mit einer Weiterbildung zum Industriemeister seien sogar bis zu 3000 Euro möglich, so Pahl.

Der größte Fachkräftebedarf besteht allerdings im Dienstleistungssektor – und dort wird mitunter deutlich schlechter gezahlt. Berliner Unternehmen können derzeit etwa 23.000 Stellen im Bereich Büro nicht besetzen. 17.200 Fachkräfte fehlen im Segment Personalwesen. 9600 freie Jobs gibt es in den Feldern Erzieher und soziale Berufe. 5000 Stellen sind in der Gesundheitsbranche unbesetzt. Gerade in den Gesundheitsberufen wird sich die Lage bis zum Jahr 2030 verschärfen: Die IHK geht davon aus, dass dann rund 32.000 Mitarbeiter in diesem Bereich fehlen.

„Coding ist das neue Latein“

An der Verschärfung des Fachkräftemangels wird auch der digitale Wandel kaum etwas ändern: Ohne Digitalisierungseffekte werden im Jahr 2030 voraussichtlich 337.000 Beschäftigte fehlen, mit der Digitalisierung vermutlich 251.000. Die zunehmende Automatisierung wird dabei besonders die sogenannten Helfertätigkeiten treffen. Vor allem eine gute Ausbildung schütze davor, beim digitalen Wandel auf der Strecke zu bleiben, so IHK-Bereichsleiter Constantin Terton.

Berlin sollte deswegen auch mehr in die digitale Infrastruktur der Schulen investieren. Terton: „Coding ist das neue Latein. Die Schüler müssen lernen, wie Maschinen funktionieren.“ Bisher gehe die Bildungspolitik an der Realität vorbei, kritisiert auch die CDU. Die Koalition drehe bereits an vielen Stellschrauben, entgegnet Wirtschaftssenatorin Ramona Pop (Grüne). „Gerade jetzt, unter wirtschaftlich stabilen Bedingungen, müssen wir gegensteuern“, so Pop.

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