Berlin. Statt Klein-Klein braucht die Hauptstadt eine kühne, übergreifende Verkehrs­vision für das Berlin der Zukunft, meint Thomas Fülling.

Berlin wächst, und das schon seit einiger Zeit kräftig. Jedes Jahr kommen unterm Strich 60.000 Menschen neu in die Stadt. Und dieser Zuzug ist nicht nur auf dem Wohnungsmarkt zu spüren, sondern auch im alltäglichen Verkehr. Es wird eng und immer enger in den Bussen und Bahnen ebenso wie auf Gehwegen und Straßen.

Es ist also richtig und wichtig, dass sich die politisch Verantwortlichen aber auch die Bürgergesellschaft ernsthaft Gedanken darüber machen, wie die Berliner auch jenseits der Vier-Millionen-Einwohner-Marke mobil bleiben. Hochfliegende Pläne haben dabei Konjunktur. Ein regelrechter Wettbewerb um die spektakulärste Forderung scheint in diesen Tagen entfacht.

Die einen wünschen sich möglichst rasch 100 Kilometer Schnellradwege, die anderen hoffen auf 300 Kilometer neue Gleise, damit die Tram überfüllte Busse ersetzen kann. Der Fahrgastverband warnt eindringlich vor einem Kollaps bei der U-Bahn, wenn nicht endlich in Größenordnung neue Wagen geordert werden. Und auch die nicht ganz so lautstarke Fußgänger-Lobby meldete sich jetzt zu Wort und forderte alle 50 Meter einen Zebrastreifen, damit die insgesamt älter werdende Stadtbevölkerung auch künftig gefahrlos über die Straße kommt. Die Wirtschaft beklagt wiederum den schlechten Zustand vieler Berliner Straßen und Brücken, durch die der Schwerlastverkehr weite Umwege fahren muss.

Der große Wurf blieb beim Mobilitätsgesetz aus

Mit dem Mobilitätsgesetz, immerhin das erste in ganz Deutschland, wollte die rot-rot-grüne Landesregierung eine Antwort auf die Frage geben, wie der Stadtverkehr der Zukunft aussehen soll. Doch der große Wurf blieb aus. In dem Gesetzentwurf fanden sich zunächst vor allem Forderungen wieder, die die Fahrrad-Aktivisten mit Verve vorgetragen haben. Die SPD wiederum versucht nun, dass auch die Interessen von Menschen, die auf das Auto angewiesen sind, Eingang finden. Die Diskussion dazu bewegt sich vielfach auf einer Ebene, bei der es augenscheinlich nur darum geht, eigene Positionen maximal durchzusetzen.

Was bisher weitgehend fehlt, ist eine kühne, übergreifende Verkehrs­vision für das Berlin der Zukunft, in der alle Interessen sich wiederfinden. So wird die Stadt Berlin schon wegen ihrer schieren Größe und der vielen fast eigenständigen Stadtteilstrukturen her kein Groß-Kopenhagen werden, wie es sich manche Fahrrad-Enthusiasten wünschen.

Rot-Rot-Grün hängt beim Straßenbahnausbau hinterher

Und wir Berliner sollten auch weiter den Anspruch haben, uns mithilfe profitabler Industriefirmen und innovativer Technologie-Marktführer aus der Alimentierung durch andere Bundesländer zu befreien. Ein solcher Anspruch führt aber zwangsläufig dazu, dass die Stadt auch künftig ein Straßennetz braucht, über die nicht nur Lastenräder rollen.

Berlin braucht endlich auch mehr Schwung, um über Infrastrukturvorhaben nicht nur ausgiebig zu debattieren, sondern sie auch umzusetzen. Das gilt zuallererst für den Hauptstadtflughafen, über dessen sich nunmehr schon sechsjährige Inbetriebnahme-Verspätung sich kaum noch ein Berliner Politiker ernsthaft echauffiert. Und was der BER im Großen, sind andere Projekte im Kleinen.

So wird die rot-rot-grüne Regierungskoalition, die gerade die „Legislaturperiode der Straßenbahn“ ausgerufen hat, es bis zum Ende derselben nicht einmal schaffen, die vier Projekte in die Tat umzusetzen, die ihre rot-schwarzen Vorgänger beschlossen haben. Wenn alles gut geht, kommen bis 2021 gerade mal sechs Kilometer neue Gleise dazu. Nicht nur beim Wohnungsbau ist Berlin derzeit eine Stadt ohne Saft und Kraft. Auch in der Verkehrspolitik gibt es kein klares Ziel. Die wachsende Stadt Berlin hat wirklich Besseres verdient.

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