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Europa-City. Hunderte neue Wohnungen, Büros, Läden und Lokale entstehen derzeit im „Quartier Heidestraße“ nördlich vom Hauptbahnhof.

©  Kai-Uwe Heinrich

Wohnungsmangel in Berlin: "Sollen die Preise nicht steigen, muss man bauen, bauen, bauen"

Ex-Senatsbaudirektor Hans Stimmann kritisiert den Stillstand bei der Stadtentwicklung. Er fordert weniger „Wohnmaschinen“, mehr Kleinteiligkeit.

Rund 15 Jahre lang wirkte er mit am Gesicht der Hauptstadt: Hans Stimmann, 76, war von 1991 bis 2006 Senatsbaudirektor der SPD und Chefplaner in Berlin. Der Architekt ist heute Honorarprofessor in Dortmund. Als „mächtiger Mann“, wie er sich einmal nannte, machte er etwa Vorgaben zur Blockbebauung und Traufhöhe in der Tradition des steinernen Berlins.

Herr Stimmann, Berlins Städtebau ist tot. Keiner streitet mehr über Architektur, stattdessen nur über Spekulanten und Kiezaktivisten. Was läuft hier schief?
Beim Senat gibt es eine Realitätsverweigerung, die fast schon behandlungsbedürftig ist. Aus ideologischen Gründen ignoriert Rot-Rot-Grün, dass Private den größten Teil der Wohnungsbau-Produktion leisten. Obwohl diese also wesentliche Teile der aktuellen Wohnungsfragen lösen, kommen sie in der Politik nicht vor. Kein Wort darüber im Koalitionsprogramm. Im politischen Diskurs ist allenfalls von Luxuswohnungen die Rede. Dabei ist es auch ohne raffgierige Bauträger unmöglich, eine Wohnung zu bauen, deren Kosten mit einer Miete von 6,50 Euro wirtschaftlich sind. Das können die landeseigenen Wohnungsunternehmen ebenso wenig. Deshalb lassen die sich jetzt sogar die Sozialbauten von Privaten bauen. Aber ganz egal wer baut, billige Mieten sind das Ergebnis von Bau- und Finanzierungskosten plus Subvention.

Ist die Linkswende in der Wohnungspolitik schuld, die mit der Ablösung der großen Koalition kam?

Nein, das Programm von Frau Lompschers Vorgänger Andreas Geisel (heute Innensenator; Anm. d. Red.) war auch nicht besser und hätte von Walter Ulbricht aus den 50er Jahren stammen können: Besser, schneller, billiger bauen. Das war die Zeit, als die DDR sich schlagartig von der handwerklichen Produktion von Wohnraum im ersten Abschnitt der Karl-Marx-Allee verabschiedete und zur industriellen Produktion überging und die Plattenbauten des zweiten Abschnitts hinstellte. Es folgten der Fischerkiez, die Großsiedlungen in Marzahn und Hellersdorf. Im Westen baute man in den 60er Jahren die Gropius-Stadt, aber auch das Neue Kreuzberger Zentrum, das heute nur deshalb funktioniert, weil es im Kreuzberger Kiez der Gründerzeit liegt.

Ex-Senatsbaudirektor Hans Stimmann.
Ex-Senatsbaudirektor Hans Stimmann.

© Kai-Uwe Heinrich

Hat sich das mit der Machtübernahme der Linken in der Verwaltung für Stadtentwicklung nicht geändert? Lompscher wird ja schon „Bauverhinderungssenatorin“ geschimpft.

Ja, aber die Rhetorik des Senats ist immer noch unendlich einfallslos. Das steckt im genetischen Code von SPD und Linken und wurzelt in der Programmatik der frühen sozialdemokratischen Partei. Friedrich Engels hatte als Voraussetzung zur Lösung der Wohnungsfrage die Kommunalisierung von Grund und Boden gesehen sowie den Bau kommunaler Wohnhäuser. Das hat den sozialen Wohnungsbau hervorgebracht, der nach dem Zweiten Weltkrieg Milliarden kostete und mit den Großsiedlungen soziale Brennpunkte schuf. Kein Mensch träumt davon, im Plattenbau einer Großsiedlung zu leben, alle wollen eine Wohnung in einem Mietshaus aus der Gründerzeit. Fast alle zeitgenössischen Architekten leben in Gründerzeitquartieren und die besonders erfolgreichen in einer klassizistischen Villa. Das trifft auch für die meisten Politiker zu. Diese begehrten Mietshäuser wurden alle von Privaten gebaut.

Private bauen heute Blöcke in der Europa-City am Hauptbahnhof: gewaltige Wohnmaschinen mit den immer gleichen Fassaden. Rettet das die Stadt?

Nein, aber daran ist die Bodenpolitik schuld. Die Logik der Aktivierung von Bundes- oder Landesgrundstücken produziert große Bauflächen. Das bedeutet, ein Architekt baut einen ganzen Block und nicht wie in der Gründerzeit ein Haus im Block. In der Europa-City arbeiten hervorragende Architekten wie Max Dudler. Aber eine 100 Meter lange Dudler-Fassade ist das Gesicht einer Wohnmaschine. Wenn man das ändern will, dann muss der Senat für den Hausbau geeignete Parzellen bilden und diese kleinteilig vergeben. So lange das nicht passiert, wird auch mit guter Architektur nicht die Stadt entstehen, von der alle träumen.

Warum Parzellen?

Weil nur eine Handvoll Projektentwickler oder großer Wohnungsbaugesellschaften große Grundstücke entwickeln können. Baugruppen, Genossenschaften, Mittelständler wie ehemals die Handwerker in der Gründerzeit haben keine Chance. Das hat der Senat geändert und der Wettbewerbssieger für die Europa-City sah eine Mischung aus kleinteiliger Parzellierung und größeren Grundstücken vor. Aber dann hat der Senat sein eigenes Konzept schon im Masterplan missachtet. In Abstimmung mit der bundeseigenen Vivico gab es statt unterschiedlich großer Häuser und vielfältiger Architektur nur große Blöcke. Frau Lompscher kann man das übrigens nicht anlasten. Der Qualitätsverlust geschah in der Verantwortung von Ingeborg Junge-Reyer (2002-2004 und 2006-2011 Stadtentwicklungssenatorin, Anm. d. Red.) und ihren Nachfolgern, alle von der SPD.

Städtebaulich und architektonisch erleben wir ein Flashback der 90er Jahre, der Senat wiederholt die Fehler, die Sie nach der Wende in der Friedrichstadt nicht verhindern konnten ?

Ja, und auch der Potsdamer Platz ist ein Beispiel dafür. Aber der Senat hatte nach 1996 die Weichen umgestellt und im Planwerk Innenstadt kleinteilige Bebauungen für viele Orte vorgeschlagen: für den Molkenmarkt, den zweiten Bauabschnitt der Karl-Marx-Allee oder den Schinkelplatz. Dort sollten Häuser mit 16 Meter breiten Grundstücken entstehen. Dann kam der Regierungswechsel. Aus sieben Grundstücken wurden drei und aus Häusern individueller Bauherren Blockstrukturen von Projektentwicklern. Deshalb sieht die Stadt so glatt aus. Und nicht nur hier.

Und wie ist das zu erklären?

Grundeigentümer scheuen den Aufwand beim Verkauf von Flächen, übrigens auch das Land Berlin, der Bund und die Immobilientochter der Bahn. Statt einen Vertrag mit einem Entwickler müssten sie viele Verträge mit vielen Käufern abschließen. Das kostet Zeit und Mühe, zumal die Akteure nicht so professionell sind. Die Belohnung dafür wäre aber Vielfalt: beim Eigentum und bei der Architektur, weil Privatleute aus verschiedenen Schichten zum Zuge kommen und nicht immer dieselben Kapitalgesellschaften, die Blöcke in Eigentumswohnungen aufteilen und verkaufen oder das Ganze als Renditeobjekt ins Portfolio nehmen. Das alles hängt an der Bodenfrage.

Warum ignoriert der Senat die Erkenntnisse von 27 Jahren Gesamtberliner Stadtplanung?

Aus ideologischen Gründen, weil er nur zwischen öffentlich geförderten Mietwohnungsbau oder privaten Luxuswohnungen unterscheidet. Er ignoriert die Vielfalt unserer Gesellschaft. Auf den Straßen laufen ja auch nicht alle im Business-Anzug rum. Der eine trägt Kapuzen-Pulli, der andere Armani-Jeans, es gibt den Lederlook und den Samtanzug. Viele arbeiten in Start-ups, vermieten ihre Wohnung, um auf Gran Canaria surfen zu können, sie hangeln sich von Job zu Job, wollen ihr Loft aber am liebsten kaufen. Bourgeois hier, Fabrikarbeiter dort, das gibt es nicht mehr. Und darauf muss auch der Städtebau reagieren.

Lompscher setzt Schwerpunkte auf Mieterschutz und Beteiligung. Ist das falsch?

Nein, aber wenn die Miet- und Kaufpreise nicht ins Unendliche steigen sollen, muss man bauen, bauen, bauen, um das Angebot zu vergrößern. Aber hier gibt es eine Blockade, die die ganze Stadt überwinden muss. Die Linke betreibt eine Art Denkmalpolitik für die DDR-Baustrukturen, die Grünen wollen zwar bauen, aber auch die Brachen sichern als Öko-Biotope. Und die SPD redet nur über bezahlbares Wohnen und das geht zurzeit nur mit städtischen Unternehmen plus Subventionen. Wohneigentum ist ein Tabu. Dabei brauchen wir Eigentum und zwar nicht nur als Eigenheim in Kleinmachnow oder als Luxuswohnung in einer gründerzeitlichen Baulücke.

In der Innenstadt hagelt es Proteste bei jedem Versuch ein Viertel zu verdichten. Muss der Senat es trotzdem wagen?

Ja, und er muss die Zielkonflikte sichtbar machen. Stattdessen will er die Karl-Marx-Allee zum Weltkulturerbe erklären lassen. Dabei gibt es ähnliche Architektur in Dutzenden Städten der ehemaligen Sowjetunion. Wir haben 1996 einen Sturm der Entrüstung geerntet mit unseren Vorschlägen unter anderem für die Verdichtung des Hansaviertels und in der Karl-Marx-Allee, zweiter Bauabschnitt. Nach dreijähriger Diskussion hat der Senat jede Verdichtung des Hansaviertels abgelehnt, aber immerhin das Konzept für die Karl-Marx-Allee beschlossen. Davon ist nichts geblieben. Dabei gibt es dort ebenso wie in allen anderen Siedlungen der Nachkriegsmoderne Verdichtungspotenzial ohne Ende. Wer alles erhalten will, wie es ist, verschließt sich der Zukunft. Berlin ist im Werden.

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