Leser diskutierten mit Experten über Mobilität in Berlin und die Verkehrspolitik der rot-rot-grünen Landesregierung.

Oft ist vom Krieg auf den Straßen die Rede, von unversöhnlichen Positionen der Auto- und Radfahrer, der Fußgänger und Nutzer öffentlicher Verkehrsmittel. Doch beim Leserforum der Berliner Morgenpost zur Verkehrspolitik der rot-rot-grünen Landesregierung dominierten am Mittwochabend konstruktive und kompromissbereite Töne. Es wurde kontrovers debattiert, aber nicht heftig oder gar aggressiv gestritten. Das überraschte nicht nur Moderator Hajo Schumacher.

Was ist nötig, um den Berliner Verkehr verlässlicher, schneller, sicherer und zukunftsfähiger zu machen? Darüber diskutierten Verkehrssenatorin Regine Günther (parteilos, für Grüne); der CDU-Fraktionschef im Abgeordnetenhaus, Florian Graf; der Geschäftsführer der Unternehmensverbände Berlin-Brandenburg (UVB), Sven Weickert; der Berliner Vize-Landesvorsitzende des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC), Evan Vosberg sowie der Verkehrsexperte der Berliner Morgenpost, Thomas Fülling. Viele der mehr als 150 Morgenpost-Leser im vollbesetzten Kinosaal des Zoo-Palasts beteiligten sich an der Diskussion. Der Bogen reichte von der Zukunft des privaten Autoverkehrs in der Innenstadt über die Stärkung des Radverkehrs und den Wirtschaftsverkehr der Zukunft bis zum Ausbau der Netze von U-, S-, Straßen- und Regionalbahn. Die wichtigsten Punkte im Überblick.

Tempo 30 auf Hauptverkehrsstraßen:

Die Verkehrssenatorin machte deutlich, dass auch Berlin ein Luftverschmutzungsproblem hat und Gerichte Fahrverbote für Dieselfahrzeuge verhängen könnten, denn die Stickoxid-Emissionen an vielen Straßen seien zu hoch. Zunächst sei der Bund gefordert, der die Autohersteller zu Nachrüstungen verpflichten müsse. Aber auch der Senat sei aufgefordert zu handeln. „Nicht nur wegen der Gerichte, es geht auch um die Gesundheit von 50.000 betroffenen Menschen“, sagte Günther. Daher werde ab November an fünf Hauptverkehrsstraßen in Berlin getestet, wie der Verkehrsfluss mit Tempo 50 funktioniert und anschließend, im kommenden Jahr, ob Tempo 30 in Verbindung mit anderen Ampelschaltungen für einen besseren, stetigeren Verkehrsfluss sorge.

Florian Graf konterte, die Senatspolitik wirke wie ein „Experimentierfeld“. Die Landesregierung teste Tempo 30, plane den Rückbau von Straßen zu Gunsten des Radverkehrs und spreche von weiteren Parkzonen. Das sei eine gegen Autofahrer gerichtete Umerziehungspolitik. Graf sprach sich für einen „fairen Mix“ aller Verkehrsteilnehmer und Verkehrsträger aus. Der müsse vor allem auch die Menschen außerhalb der Innenstadt berücksichtigen. Vorrang müssten die Entlastung des Pendlerverkehrs und der entsprechende Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs sowie ein tragfähiger Wirtschaftsverkehr haben. Auch Thomas Fülling wandte ein, „Tempo 30 allein löst gar nichts“. Notwendig sei ein ganzheitliches Konzept, um den Verkehrsfluss in Gang zu halten. Der Morgenpost-Experte forderte, das System der Vorrangschaltungen für Straßenbahnen und Busse, das 2006 wegen der Fußball-WM in weiten Teilen abgeschaltet wurde, zügig wieder in Gang zu setzen.

Autoverkehr in der Innenstadt:

Da hat die Verkehrssenatorin einen ganz klaren Standpunkt: „In einer Stadt, die pro Jahr um 40.000 Menschen wächst, vertragen wir nicht mehr Autos. Das ist ausgeschlossen“, sagte sie. Zur Überraschung vieler Zuhörer erklärte aber auch Sven Weickert, von dem Grundsatz „freie Fahrt für freie Bürger“ müsse man sich verabschieden. „Wir müssen die Mobilität der Zukunft gestalten, und die wird in der Innenstadt über den öffentlichen Nahverkehr abgewickelt werden müssen“, sagte er. Die Zunahme von Car-Sharing-Systemen, die E-Mobilität und das autonome Fahren würden den Individualverkehr stark verändern. Doch in der politischen Debatte würden Zukunftsvisionen zu wenig in den Blick genommen. „Stattdessen verkämpfen wir uns an Tempo-30-Zonen“, kritisierte er.

Wirtschaftsverkehr:

Sven Weickert erklärte, Tempo 30 auf einzelnen Straßen sei nicht das zentrale Problem. Fahrverbote für Dieselfahrzeuge würden den Wirstchaftsverkehr aber zum Erliegen bringen, warnte der UVB-Geschäftsführer. Er bekannte sich zum Umweltschutz, dieser müsse mit ökonomischer Vernunft einhergehen. „Wir müssen den Wirtschaftsverkehr neu denken und zu neuen Systemen kommen“, betonte er. Der Wirtschaftsverkehr habe sich stark verändert, vor allem wegen der Kurierfahrten und Paketdienste. Aber auch die von Pflegediensten verursachten Fahrten hätten stark zugenommen. Notwendig seien zudem mehr Ladezonen, die die Ordnungsämter auch kontrollieren müssten, damit sie nicht zugeparkt werden. Das würde verhindern, dass Lieferfahrzeuge in zweiter Spur halten. Einig waren sich Günther und Weickert, dass mit Lastenfahrrädern nur ein Teil des Wirtschaftsverkehrs abgewickelt werden könnte, wobei der UVB-Geschäfstführer diesen Anteil aber deutlich geringer einschätzte. Die Senatorin zeigte sich auch aufgeschlossen gegenüber Experimenten. In anderen Städten würden Güter nachts mit der Tram ausgeliefert.

Mobilitätsgesetz:

An diesem Punkt diskutierte das Podium vor allem darüber, ob es gut ist, zuerst ein Konzept für den Öffentlichen Nahverkehr und den Radverkehr zu erarbeiten und den Wirtschafts- sowie den Fußgängerverkehr und die intelligfente Mobilität erst im kommenden Jahr folgen zu lassen. ADFC-Experte Evan Vosberg lobte den Ansatz des Senats, mit dem Gesetz ein integriertes Konzept zu schaffen. Er brach eine Lanze für den Weg, „den Berg an Problemen“ nacheinander abzuarbeiten.

Sven Weickert hingegen meinte, das Mobilitätsgesetz gebe kein ganzheitliches Konzept für den öffentlichen Nahverkehr, den privaten und den Wirtschaftsverkehr her. Der Wirtschaftsverkehr komme bislang kaum vor. „Verkehrspolitik darf nicht in Legislaturperioden gedacht werden“, warnte er. Man solle sich die Zeit gönnen, ein integriertes Konzept zu schaffen. Wenn jetzt schon Straßen für den Fahrradverkehr umgestaltet werden, schaffe man Tatsachen. Dem widersprach die Senatorin. Es werde nichts so schnell verbaut. Und es sei nicht möglich, alle Verkehrsbereiche gleichzeitig zu bearbeiten. Beim Mobilitätsgesetz gehe es darum, dass jeder Verkehrsteilnehmer seinen Raum bekommt und sicher von A nach B gelangt. Wichtig sei ein besseres Miteinander und eine bessere Verzahnung der Verkehrsträger. CDU-Fraktionschef Graf sieht das geplante Mobilitätsgesetz hingegen als „Kampfansage an Autofahrer“.

Radverkehr:

Hier konnte sich Hajo Schumacher, selbst meist mit dem Fahrrad unterwegs, die Bemerkung nicht verkneifen, dass bislang von einer neuen rot-rot-grünen Politik für Fahrradfahrer noch nicht viel zu sehen sei. Die Verkehrssenatorin erklärte dazu, der Umbau von Straßen mit breiteren und geschützten Straßen stehe unmittelbar bevor. CDU-Fraktionschef Graf forderte hingegen, den Radverkehr in Nebenstraßen zu verlegen. Würden auf zweispurigen Straßen wie der Schönhauser Allee oder dem Tempelhofer DammRadspuren angelegt, breche der Verkehr zusammen. Evan Vosberg und Thomas Fülling forderten ein Fahrradleihsystem, das in den öffentlichen Nahverkehr integriert und etwa mit der VBB-Jahreskarte verbunden ist. „Da sind wir zehn Jahre hinterher“, monierte Vosberg. Auch Fülling kritisierte, die Wichtigkeit der Mobilitätskette werde von der Berliner Politik seit Jahren ignoriert.

Pendlerverkehr.

Auch hier war sich das Podium einig. Der Schienenverkehr ins Umland muss verbessert werden, um mehr Menschen zu ermöglichen, statt mit dem Auto mit der Bahn in die Stadt zu fahren. 300.000 Menschen kommen täglich als Berfspendler nach Berlin. Selbst wenn alle S- und Regionalbahn nutzen wollten, es wäre nicht machbar, die Kapazität reicht nicht. „Das öffentliche Verkehrssystem in der Region ist noch nicht zukunftssicher, bilanzierte Morgenpost-Redakteur Thomas Fülling.

Regine Günther betonte, die Verbesserung des Pendlerverkehrs sei eines der zentralen Vorhaben der Landesregierung in dieser Legislaturperiode. Dies sei aber nur langfristig zu lösen, denn dazu müssten neue Gleise gebaut werden. „Verkehr ist Infrastruktur. Schnelle Lösunmgen wird es nicht geben“, betonte die Senatorin. Wenn etwa neue S-Bahn-Züge bestellt werden, dauere es sieben Jahre bis zur Auslieferung. Beim Pendlerverkehr planten aber Berlin und Brandenburg nun endlich gemeinsam und seien auch bereit, für die Planungskosten in finanzielle Vorleistung zu gehen. Dafür halte Berlin für das Jahr 20198 einen Betrag von bis zu zehn Millionen Euro bereit. Kurzfristig werde aber geprüft, ob bei der Regionalbahn dichtere Taktfolgen oder der verstärkte Einsatz von Doppelstockzügen möglich sei.

U-Bahn- und Straßenbahnnetz:

Regine Günther betonte, auch in der Innenstadt müssten mehr Alternativen zum Autoverkehr geschaffen werden. Deshalb plane der Senat 14 neue Straßenbahnstrecken. „Wir setzen aber auch nicht Tram gegen U-Bahn. Das ist ein Mythos“, betonte sie. Bis Dezember werde geprüft, ob eine Verlängerung der Linien U1, U7, U8 und U9 möglich ist. Florian Graf reichte das nicht aus. Er kritisierte, die Senatspolitik setze zu sehr auf die Straßen- und zu wenig auf die U-Bahn.

Und das sagen die Leser:

Mehrere Gäste, darunter auch Jens Wieseke vom Fahrgastverband Igeb, forderten den Bau neuer Bahngleise und damit die Beseitigung von Kriegsschäden im Bahnnetz. Damit wäre etwa möglich, die Taktzeiten nach Oranienburg zu halbieren. Rainer Welz aus Lichtenrade schlug vor, die Tarifzonen im VBB-System auszuweiten, damit Pendler nicht verleitet werden, mit dem Auto nach Berlin zu fahren und erst dort in die Bahn umzusteigen. Monika Seidel aus Zehlendorf erklärte, dass sie häufig mit dem Auto fährt, weil sie sich abends auf dem Weg vom oder zum U-Bahnhof nicht sicher fühlt. Und sie ärgerte sich über Fahrradfahrer, die rücksichtslos auf dem Bürgersteig fahren und Fußgänger gefährden. Hajo Schumacher pflichtete ihr bei – und auch in dieser Frage war sich das Podium einig.

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