„Ich beobachte eine große Entfremdung zwischen Politik und Wirtschaft“

Datum des Artikels 23.06.2020
MittelstandsMagazin

Nach der gescheiterten Kaufprämie für Verbrenner fürchtet die neue Präsidentin des Verbandes der Automobilindustrie (VDA), Hildegard Müller, dass Politik und Gesellschaft die Dramatik der Krise unterschätzen. Sie sieht Deutschlands Gesellschaftsmodell in  Gefahr. Im Interview mit Mittelstandsmagazin-Chefredakteur Thorsten Alsleben spricht das MIT-Mitglied über die Rettungspakete der Regierung, weitergehende Reformen und die Zukunft der Autobranche.

Frau Müller, Sie sind von der Politik in die Wirtschaft gewechselt. Haben Sie in Ihrer jetzigen Rolle das Gefühl, dass Politik die Bedürfnisse der Wirtschaft richtig versteht?

Müller: Leider beobachte ich eine große Entfremdung zwischen Wirtschaft und Politik, an deren Überwindung beide Seiten arbeiten sollten. Ich bin dennoch davon überzeugt, dass unser Land am Anfang der Corona-Krise klug gehandelt hat. Wir haben durch eine sehr verantwortliche Politik die dramatischen gesundheitlichen Konsequenzen der Corona-Pandemie, wie es sie in anderen, auch europäischen, Ländern gibt, vermeiden können. Zudem wurde im Hinblick auf die Liquiditätshilfen schnell und entschlossen gehandelt. Das war möglich aufgrund des jahrelangen wirtschaftlichen Wachstums und funktionierender Sozialsysteme. Jetzt geht es um die grundlegenden Fragen, wie wir uns in unserem Land künftig aufstellen, einhergehend mit der aktuellen Krise: vom Bürokratieabbau bis zu den passenden Rahmenbedingungen für unternehmerisches Handeln. Welche Bedeutung hat die Industrie mit ihrem großen Mittelstand? Welchen Ordnungsrahmen setzt die Politik?

Also interpretiere ich das so, dass Ihrer Ansicht nach die Politik nicht immer versteht, was die Wirtschaft eigentlich bräuchte?

Mich treibt die Sorge um, ob Politik und Öffentlichkeit wirklich schon verstanden haben, wie dramatisch die Krise ist, vor der die Wirtschaft und damit unser Land steht. Deutschland wird durch sein starkes Sozialsystem und das besondere Instrument der Kurzarbeit derzeit noch von den schlimmen Folgen der Rezession geschützt. Wenn die Wirtschaft allerdings jetzt nicht wieder in Gang kommt – natürlich stets unter Berücksichtigung des Gesundheitsschutzes –, dann werden auch wir dramatische Szenen erleben. Mitten in Europa stehen Menschen wieder für Lebensmittel an. Das ist in Deutschland alles Gott sei dank noch nicht der Fall. Doch wenn jetzt nicht bald wieder in die Sozialsysteme eingezahlt wird, wenn aus Kurzarbeit nicht wieder reguläre Arbeit wird, sondern Millionen Menschen arbeitslos werden sollten, dann steht unser Gesellschaftsmodell infrage. Arbeitsplätze, die jetzt zum Beispiel im industriellen Mittelstand verloren gehen, werden mit großer Sicherheit nicht wieder in Deutschland entstehen. Es geht aber nicht nur um Deutschland: Europa ist noch nicht wieder im Tritt. Insofern kommt der deutschen EU-Ratspräsidentschaft eine besondere Rolle zu. Maßnahmen, die erst 2021 greifen, kommen für weite Teile der Unternehmen und ihre Beschäftigten viel zu spät.

Im aktuellen Konjunkturprogramm der Großen Koalition ist die von Ihnen erhoffte Autoprämie aus­geblieben, dafür gibt es andere Maßnahmen: Elektroprämie, 
Lade­infrastruktur, Zuschüsse für neue Antriebstechniken. Sind Sie enttäuscht oder zufrieden?

Wir stellen die Frage, ob das Paket weit genug greift. Es wird zwar mit über 130 Milliarden Euro in 57 Einzelmaßnahmen ein Riesenvolumen in die Hand genommen. Nicht alles davon ist aber konjunkturell ausreichend wirksam. Natürlich ist es richtig, dass Krisen auch als Chancen gesehen werden müssen. Und es ist auch wichtig, Transformationen zu unterstützen. Aber bezogen auf uns: Elektro- und Hybridfahrzeuge zum Beispiel decken bei uns nur knapp zehn Prozent des Neuwagenmarktes ab. Allein mit einer Elektroprämie wird daher kein breiter Konjunkturimpuls entstehen. Ich glaube, dass die Probleme der vielen mittelständischen Unternehmen mit dem Konjunkturpaket nicht ausreichend berücksichtigt werden.

Aber helfen Verbesserungen wie der steuerliche Verlustrücktrag nicht auch Ihrer Branche?

Doch, aber in der geplanten Dimension hilft das eher den noch kleineren Unternehmen, nicht den Mittelständlern insgesamt. Fünf bis zehn Millinen Euro mehr Verlustrücktrag sind selbst für viele mittelständische Zulieferbetriebe wahrscheinlich schon zu wenig. Ich hätte mir gewünscht, dass wir das Instrument flexibler und großzügiger handhaben.

Und die Mehrwertsteuersenkung?

Natürlich hilft die zeitlich befristete Mehrwertsteuersenkung. Wir haben als erste Branche erklärt, dass wir die Mehrwertsteuersenkung in vollem Umfang an unsere Kunden weitergeben. Ich bin aber nicht sicher, dass das in allen Branchen so sein wird. Meine Sorge hier ist, dass wir mit der Gießkanne ein Problem angehen, das in den Branchen unterschiedlich ausgeprägt ist. Branchen, die aktuell kaum Umsätze machen, hilft keine Mehrwertsteuersenkung. Umfragen unter unseren Zulieferern zeigen aber, dass die Lage vielfach dramatisch ist und wir ohne einen Konjunkturimpuls mit Entlassungen und sogar Insolvenzen rechnen müssen.

Konnten Sie denn als MIT ­Mitglied nachvollziehen, dass Ihre MIT gegen die Autoprämie war oder waren Sie darüber verärgert?

Es gab andere Stimmen, auch von renommierten Ökonomen, die die Position der MIT nicht geteilt haben. Ich hätte mir eine noch intensivere Debatte um das Für und Wider dieses Instruments gewünscht. Ich unterstütze viele Forderungen der MIT, aber aus der aktuellen Krise kommen wir meines Erachtens nicht ohne zusätzliche Impulse, die gezielt die Konjunktur anreizen. Eine gestaffelte Prämie, wie von uns vorgeschlagen, hätte hier wirken können. Deshalb wäre es fair gewesen, wenn die Kritiker die tatsächliche Wirkung zum Beispiel der Abwrackprämie 2008/2009 zur Kenntnis genommen hätten. Sie war ein erfolgreiches Instrument. Der oft zitierte angebliche Vorzieheffekt fand so wie behauptet nicht statt, in der Summe wurden mehr Autos abgesetzt, das hat auch dem Klimaschutz geholfen. Deutschland hat damals mit dieser Entscheidung die Krise überwunden und Beschäftigung gesichert. Die Prämie hat auch gerade deutschen Herstellern und Zulieferern geholfen. Ein Großteil der Ausgaben kam übrigens über steigende Mehrwertsteuereinnahmen schnell wieder zurück an den Staat. Etwas hat mich aber noch mehr bestürzt: Natürlich wurden Fehler gemacht und Vertrauen ging verloren. Wir haben das verstanden, nehmen die Themen ernst und arbeiten daran. Pauschale Vorwürfe gegen unsere Industrie treffen aber viele Unternehmen, die regional verantwortungsvolle und innovative Arbeitgeber sind, völlig zu Unrecht.

Was würden Sie sich denn jetzt nach den Rettungspaketen an strukturellen Reformen noch wünschen? Was braucht Deutschland, um wettbe­werbsfähiger zu werden?

In dieser Frage sind VDA und MIT ganz einer Meinung: Die Innovationskraft am Standort Deutschland muss gestärkt werden. Darüber ist schon viel zu lange nur geredet worden. Investitionen in Infrastruktur, Digitalisierung, Vernetzung – das sind alles Punkte, die in Deutschland insgesamt kommen müssen. Wenn man sich ansieht, wie groß die Defizite in der öffentlichen Verwaltung sind, digital zu arbeiten, dann ist das für ein Land wie Deutschland ein Armutszeugnis. Auch der 5G-Ausbau ist für ein modernes Industrieland nicht ausreichend. Nun gilt es, endlich loszulegen, denn Lippenbekenntnisse haben wir genug gehabt. Neben der Stärkung der Innovationskraft ist für mich ein freier und fairer Welthandel genauso wichtig. Die protektionistischen Tendenzen in vielen Ländern bereiten mir ebenso Sorgen wie die Tatsache, dass die alte Achse
Europa-USA nicht mehr richtig 
funktioniert. Deshalb ist die Stärkung des freien Welthandels eine wichtige Aufgabe, und ich würde mich freuen,  wenn auch die MIT dies stärker betont.

Heißt das konkret, dass man nicht vorsichtiger sein sollte bei Investi­tionen, die zum Beispiel aus China kommen, die jetzt die verzerrte Marktlage nutzen, um hier günstig einzukaufen?

Die Corona-Krise zeigt, dass wir die Effizienz unserer Lieferketten insgesamt überprüfen müssen. Maßstab dafür ist aber nicht weniger, sondern mehr Europa.Wir sollten uns mehr darüber Gedanken machen, wie wir in solchen Krisen die Grenzen offenhalten. Ich würde mir wünschen, dass die Krisen der Zukunft nicht mehr so gemanagt werden, dass wir in Europa wieder Grenzen schließen. Wir haben gespürt, wie wichtig ein funktionierender Warentransport ist. Das scheint mir klüger zu sein als zu überlegen, Produktion aus Werken in Norditalien zurückzuholen. Die internationale Arbeitsteilung und Wertschöpfung bleiben extrem wichtig, besonders innerhalb der EU, aber auch global. Im Hinblick auf den Welthandel kommt die tektonische Verschiebung zwischen Asien, Europa und den USA hinzu. Damit wird das Selbstbewusstsein Chinas gestärkt, weltweit politisch und wirtschaftlich eine Rolle spielen zu können. Gleichzeitig bleibt das Land ein ganz wichtiger Absatzmarkt für uns. Ein Großteil unseres Wachstums und Wohlstandes in Deutschland und der EU liegt im Absatz in China begründet. Deshalb wäre es wichtig gewesen, auf dem leider verschobenen EU-China-Gipfel konkrete Fortschritte beim freien und fairen Welthandel zu erzielen. Ich hoffe, dass die Gespräche bald nachgeholt werden können.

Sollte man jetzt angesichts der Krise und der Verwerfungen bei den Klima­ vorgaben ein bisschen defensiver rangehen und die Standards runter­schrauben?

Wir bekennen uns zum Pariser Klimaschutzabkommen und zu den Verpflichtungen, die wir eingegangen sind. Entscheidend ist, dass jetzt nicht neue Belastungen und zusätzliche Erwartungen hinzukommen. Leider fehlt im Vorschlag zum Green Deal der EU ein Hinweis, sich auf die beschlossenen Maßnahmen zu beschränken. Die aktuellen Diskussionen auf EU-Ebene gehen zudem leider in die falsche Richtung. Im Wiederaufbauplan der Europäischen Kommission wird, glaube ich, nur zweimal das Wort „Industrie“ erwähnt, aber über 60 mal der Begriff „Green Deal“. Dies zeigt mir, dass dort die Dramatik des wirtschaftlichen Einbruchs in der EU noch nicht verstanden wurde. Für den VDA hatte ich zu einem frühen Zeitpunkt darauf hingewiesen, dass ein Belastungsmoratorium ein wichtiges Signal wäre: Wir halten alle Klimaziele ein, aber neue Belastungen können wir voraussichtlich erst schultern, wenn wir wieder aus der Krise heraus sind. Mit Blick auf die Innovationsfähigkeit der Industrie gilt: Wenn die Wirtschaftskraft fehlt, kann Transformation nicht stattfinden.

Der Autoindustrie wird vorgeworfen, trotz aller Vorgaben zu spät auf klimafreundliche Antriebe gesetzt zu haben. Wie lange wird es Diesel und Benziner überhaupt noch geben?

Die Antwort mag überraschen: Ich sehe moderne Verbrenner als Teil der Lösung. Wir brauchen den optimalen Mix an Technologien. Die Automobilindustrie investiert in den nächsten Jahren über 50 Milliarden Euro in neue Antriebe und über 25 Milliarden in die Digitalisierung – das ist ein starkes Transformationssignal. Aber die Chance, auch im modernen, effizienten und schadstoffarmen Verbrenner einen Teil der Lösung zu sehen, wird nicht ausreichend berücksichtigt. Ich denke zum Beispiel an E-Fuels oder an Wasserstofftechnologien. Hier ist es ja nun doch noch gelungen, einen Kabinettsbeschluss herbeizuführen. Zurzeit sind über 85 Prozent der neu zugelassenen Autos in Deutschland Verbrenner und nur knapp zehn Prozent sind Elektroautos.Welche Gründe hat das? Sicherlich ist das Angebot an E-Fahrzeugen ein Grund, aber es gibt inzwischen über 60 Modelle von deutschen Herstellern. In den nächsten drei Jahren werden knapp 100 Modelle dazu kommen. Das ist eine enorme Modelloffensive. Ein Grund für die derzeitige Kaufzurückhaltung liegt aber auch in der fehlenden Ladeinfrastruktur. Verbrauchervertrauen kommt nur, wenn Kunden das Gefühl haben, sie können sich mit ihren Fahrzeugen frei bewegen – ohne Reichweitenangst. Leider wird diese Diskussion fast nur aus der Sicht der Städter geführt, und nicht aus der Sicht der Menschen in ländlichen Regionen.

Warum bietet die Autoindustrie selbst nicht mehr klimafreundliche Alternativen an?

Der moderne, saubere und effiziente Diesel Euro-6d ist ein großer Beitrag zum Klimaschutz und zur Reduktion von Stickoxidemissionen. Hier gibt es große Erfolge, die auch das Umweltbundesamt anerkennen muss. Das ist bislang in der Diskussion viel zu kurz gekommen. Diese Punkte wollen wir noch stärker kommunizieren, denn Aufklärungsarbeit ist notwendig. Stereotype helfen uns nicht weiter, und Kritiker des Diesels sollten einen Faktencheck vornehmen. Ich habe mir fest vorgenommen, hier offensiver zu werden.

Wie sieht denn der Verkehr der Zu­kunft aus? Wird es in zehn, 20 Jahren überhaupt noch Individualverkehr geben wie heute?

Ich glaube, dass Verkehr sich dramatisch verändern wird, aber Individualverkehr auch in Zukunft eine große Rolle spielt. Zehn, 20 Jahre sind für Infrastrukturentwicklungen verhältnismäßig kurze Zeiträume. Natürlich müssen wir uns die Frage stellen, wie die Überlastung des Verkehrs in großen Städten verhindert werden kann. Einfache Verbote helfen dabei aber nicht. Ebenso wenig können kurzfristig eingerichtete Fahrradwege auf der Straße das Problem lösen, weil der objektiv vorhandene Mobilitätsbedarf der Menschen auf diese Weise nicht gedeckt werden kann. Das mag im Sommer für Fahrradfahrer schön sein, für Pendler ist es keine Lösung, sondern erschwert die notwendige Mobilität unnötig. Wir brauchen einen verkehrsträgerübergreifenden Ansatz, eine ganzheitliche Diskussion. Wenn gleichzeitig Planungs- und Genehmigungsverfahren schneller werden, hilft das bei der schnelleren Umsetzung. Bei mancher politischen Diskussion habe ich den Eindruck, dass Mobilität der Zukunft nur in Berlin im Prenzlauer Berg stattfindet. Dabei reicht ein Blick ins Umland, um zu erkennen, dass öffentlicher Personennahverkehr bei weitem nicht flächendeckend vorhanden ist. Ich möchte im Übrigen nicht in einer Gesellschaft leben, in der es bei der Mobilitätswahl keine freie Konsumentenentscheidung mehr gibt. Wer gerne sein Auto nutzt, soll dies auch in Zukunft können.

Jetzt kommen wir zu unseren tradi­tionellen Ja­-Nein-­Fragen. Sie haben einen Joker.Wird die deutsche Autoindustrie in fünf Jahren besser dastehen als vor der Corona-­Krise?

Ja.

Wird es in zehn Jahren mehr CO2­-neutrale Antriebe auf Deutschlands Straßen geben als Diesel und Benziner?

Nein. 

Werden Sie als VDA-­Präsidentin noch das selbstfahrende Auto in Serienproduktion erleben?

Ja.

Können Sie sich zumindest theoretisch vorstellen, wieder in die Politik zu gehen?

Hier ziehe ich den Joker, ich weiß, zu was solche Diskussionen führen.

Und dann noch eine Satzvervoll­ständigung: „Mein absolutes Traumauto… “

… war mein erstes Auto. Ein von meinen Eltern geschenkter Wartburg Deluxe mit Katalysator in meinen Studentenzeiten. Der hat in Düsseldorf schon ziemliches Aufsehen erregt.