Der letzte Ordnungspolitiker der CDU

Carsten Linnemann glaubt an freie Märkte, einen wehrhaften Staat und Toleranz gegenüber Konservativen. Damit steht er in seiner Partei heute fast alleine da. Ein Porträt

Marc Felix Serrao, Berlin
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«Wenn eine Partei so lange regiert wie die Union, dann mutiert sie unweigerlich zu einer reinen Regierungspartei», sagt Carsten Linnemann.

«Wenn eine Partei so lange regiert wie die Union, dann mutiert sie unweigerlich zu einer reinen Regierungspartei», sagt Carsten Linnemann.

Charles Yunck / Imago

Gehört Carsten Linnemann zum Establishment der CDU? Im Dezember sitzt der Chef der Mittelstands- und Wirtschaftsunion der Unionsparteien, kurz MIT, in der Talkshow von Markus Lanz, und der Moderator will genau das von ihm wissen. Es ist eine Frage, die harmloser klingt, als sie ist. Denn in Wahrheit geht es um Friedrich Merz; der Bewerber um den CDU-Vorsitz hat im Herbst behauptet, das Establishment der Partei wolle ihn verhindern, und Linnemann ist einer seiner wichtigsten Unterstützer. Egal, wie der 43-Jährige auf die Frage antwortet, er kann eigentlich nur verlieren.

Sagt er Ja, dann stellt er sich gegen Merz. Sagt er Nein, dann macht er sich lächerlich: als Chef des grössten parteipolitischen Wirtschaftsverbandes des Landes, als Vizechef der grössten Fraktion im Deutschen Bundestag, als drei Mal direkt gewählter Abgeordneter eines Wahlkreises, den seine Partei noch nie verloren hat. Linnemann findet trotzdem einen Ausweg: Er fühle sich nicht als Teil des Establishments, sagt er, ausserdem sei der Begriff negativ besetzt. Aus Sicht des Publikums gehöre er aber sicher dazu, er sitze schliesslich gerade bei Lanz. Ein hübscher Konter: Wenn einer zum Establishment gehört, dann ein Moderator, der an drei Abenden in der Woche zur besten Sendezeit die Lage der Nation erörtern darf.

«Die machen eh, was sie wollen»

Dennoch hat Lanz einen Nerv getroffen. Linnemann mag Teil des Establishments seiner Partei sein, aber nur auf dem Papier, wie man früher gesagt hätte. Das liegt an einer Eigenschaft, die ebenfalls aus der Zeit gefallen zu sein scheint: seiner Prinzipientreue. Jedes Mal, wenn die CDU in zentralen Wirtschaftsfragen nach links gerückt ist, hat der Volkswirt mit Nein gestimmt. Das fiel vor allem in der Euro-Staatsschuldenkrise auf, als er wieder und wieder und gegen eine zunehmend unduldsame Mehrheit auch in der eigenen Partei an das Haftungsprinzip erinnerte. «Wer sich ins Risiko begibt, muss auch die Haftung übernehmen. Und wenn dies nicht mehr möglich ist, muss die Staatsinsolvenz folgen.» So steht es in einem Buch von Linnemann mit dem passenden Titel: «Die machen eh, was sie wollen.»

Ein Abend kurz vor der parlamentarischen Weihnachtspause. Der Abgeordnete Linnemann hat in sein Büro im Bundestag eingeladen. Das Einzige, was ans christliche Fest erinnert, ist eine prall gefüllte Schale mit Schokolade und Gebäck. Linnemann fordert den Gast auf, sich zu bedienen. Als man dankend ablehnt, lacht er: Jaja, der Weihnachtsbauch, das Problem kenne er. Das klingt freundlich, ist aber Quatsch. Der Hobbyläufer Linnemann ist so dünn wie eh und je.

Was ist die CDU heute für eine Partei? Ist sie noch eine bürgerlich-liberale Kraft? Oder hat sie sich beim Versuch, das Kanzleramt nicht aus der Hand zu geben, so sehr bemüht, die Themen der linken Parteien «abzuräumen», dass sie inzwischen selbst dazugehört? Linnemann, der sonst schnell spricht und antwortet, denkt eine Weile nach. «Wenn eine Partei so lange regiert wie die Union, dann mutiert sie unweigerlich zu einer reinen Regierungspartei», sagt er schliesslich. Das bedeute, dass sie allein das Regieren in den Vordergrund stelle und es dabei vermeide, sich klar von den anderen Parteien abzugrenzen. «Kurzfristig mag so ein Kurs erfolgreich sein, langfristig ist er gefährlich.»

Druck, den man aushalten können muss

Vielleicht liegt es an Linnemanns Herkunft. Der Sohn eines Buchhändler-Paars stammt aus dem westfälischen Paderborn, und Westfalen gelten als stur. Er sei ein grosser Anhänger des freien Abgeordnetenmandats, sagt Linnemann. Es sei nicht schwierig, gegen einen Gesetzentwurf zu stimmen, wenn die Mehrheit so oder so zustande komme. Aber wenn die Kanzlermehrheit auf dem Spiel stehe, dann werde es brenzlig. Dann nehme der Druck massiv zu, und «das muss man aushalten können».

Auch in der Corona-Pandemie fällt Linnemann regelmässig aus der Reihe. Während andere Abgeordnete der CDU ihr Mandat als Auftrag begreifen, der Regierung zu applaudieren, und Redebeiträge im Plenum für Ergebenheitsadressen an die Kanzlerin nutzen, mahnt der MIT-Chef Disziplin an. Er drängt darauf, das Kurzarbeitergeld nicht einfach zu verlängern. Er fordert, die Staatsbeteiligungen an Konzernen so schnell wie möglich wieder zu beenden. Zuletzt hat Linnemann kritisiert, dass der deutsche Staat einem Teil der Wirtschaft vorübergehend 75 Prozent des Umsatzes erstattet, während er einem anderen, dem Einzelhandel, das Hauptgeschäft des Jahres nimmt. Da dürfe man sich nicht wundern, wenn ein Sturm der Entrüstung losbreche.

Linnemann sagt, dass er sich keineswegs als Sprachrohr der Unternehmer verstehe, sondern als Sprachrohr für Wettbewerb und Eigenverantwortung. «Wettbewerb tut weh», sagt er, «Wettbewerb ist nichts, was Unternehmer immer gut finden».

Dem «Wirtschaftsweisen» geht das Herz auf

Einer, der solche Sätze liebt, ist Lars Feld, der als Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zu den einflussreichsten Ökonomen des Landes zählt. Ihm gehe das Herz auf, wenn er Linnemanns Beiträge lese oder seinen Reden im Parlament folge, schwärmte der «Wirtschaftsweise» kürzlich in einer Laudatio. Da erhielt der CDU-Politiker den Wolfram-Engels-Preis der Stiftung Marktwirtschaft. Andere beriefen sich auf die Soziale Marktwirtschaft, meinten aber den Sozialismus. Linnemann hingegen habe die Courage, «selbst gegen die Mehrheit seiner eigenen Partei die ordnungspolitische Vernunft des Wirtschaftspolitikers zu setzen». Der Abgeordnete sei einer «der letzten Ordoliberalen im Deutschen Bundestag».

Die Wirtschaftspolitik ist nicht das einzige Feld, auf dem der Westfale seiner Hauptsache-Regieren-Partei auf die Nerven geht. Im vergangenen Jahr war er Mitherausgeber einer Streitschrift mit dem Titel «Der politische Islam gehört nicht zu Deutschland». Das Thema Integration – vor allem von Hunderttausenden meist schlecht ausgebildeten und überwiegend männlichen Migranten aus arabischen und nordafrikanischen Ländern – treibt Linnemann seit Jahren um. Anders als viele Parteifreunde hat er nie den Traum von einem durch Asylbewerber ausgelösten neuen Wirtschaftswunder und einem mit ihrer Hilfe sanierten Rentensystem geteilt. Und daran erinnert er die CDU regelmässig.

Als die Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer dem früheren Verfassungsschutz-Präsidenten Hans-Georg Maassen indirekt mit einem Rauswurf aus der Partei drohte, wusste sie zwar deren Führungsriege hinter sich. Doch Linnemann hielt dagegen. Maassen gehöre «selbstverständlich» zur CDU, liess er Kramp-Karrenbauer wissen. Mehr noch: Er schätze den Parteifreund als Fachmann, «der nicht etwa einen Rechtsruck vorantreibt, wie manche meinen, sondern den Rechtsstaat durchsetzen will».

Lob vom linken Flügel der SPD

Doch während Maassen in Ungnade gefallen ist, wird Linnemann geduldet. Ein Grund ist vermutlich sein Ton. Der Volkswirt greift, wenn, dann nur Argumente anderer Politiker an, nicht andere Politiker. Damit hat er sich sogar unter linken Parlamentariern Freunde gemacht. «Wir haben in fundamentalen Fragen sicher völlig unterschiedliche Grundüberzeugungen», sagte etwa der Sozialdemokrat Matthias Miersch der NZZ auf Anfrage. «Doch in all den strittigen Punkten, die wir im Bereich der Energiepolitik in letzter Zeit verhandelt haben, findet sich grosser Respekt gegenüber der jeweils anderen Haltung.» Der Sprecher der parlamentarischen Linken in der SPD-Bundestagsfraktion kennt Linnemann aus dem Bundestagsausschuss für Wirtschaft und Energie.

Ein zweiter Grund ist Linnemanns Bemühen, nie nur Kritik zu üben. Wenn er etwas auszusetzen hat, macht er im nächsten Atemzug einen Gegenvorschlag. Beispiel Frauenquote: Ja, sagt Linnemann, seine Partei brauche mehr Frauen. Nein, die Quote sei der falsche Weg. Seine Idee: «Die CDU sollte jeder Frau eine kostenlose Mitgliedschaft im ersten Jahr anbieten.» Ein dritter Grund für Linnemanns Duldung ist seine Social-Media-Diät. Von Twitter, dem Kurznachrichtendienst, in dem schon viele Politiker und Journalisten ihre Nerven und ihren Ruf verloren haben, hält er sich fern.

Der vierte und letzte Grund sind, ganz einfach, die Kräfteverhältnisse. Linnemann kann kritisieren und fordern, soviel er will. Es bleibt weitestgehend folgenlos. In der 246-köpfigen Bundestagsfraktion von CDU und CSU sind er und seine Gleichgesinnten eine winzige Minderheit. Dazu zählen etwa Jana Schimke, Christoph de Vries, Christoph Ploss oder auch Philipp Amthor, der seine Lobbyismus-Affäre zumindest juristisch überstanden hat und nun an der Rückkehr in die Öffentlichkeit arbeitet. Neben der Tatsache, dass das Grüppchen nicht annähernd so gut organisiert ist wie etwa die Quotenfreunde in der Unionsfraktion, spielt auch eine Rolle, dass keiner von ihnen in der ersten Reihe sitzt. Das heisst, einer hat es doch geschafft: Jens Spahn. Der Gesundheitsminister hat, was es braucht, um Politik zu gestalten: ein Regierungsamt.

Jens Spahn, ruhiggestellt

Spahn ist ein interessanter Fall. Der 40-Jährige war lange ein Hoffnungsträger für CDU-Mitglieder, die mit der Kanzlerin hadern. Immer wieder liess er in Interviews durchblicken, wie wenig er von Angela Merkels Politik hielt. Die löste das Problem, indem sie ihn 2018 zum Minister machte. Seither herrscht Ruhe. Spahn hat in Merkels Auftrag sogar die von der SPD durchgesetzte «Grundrente» ausgehandelt, die in Wirtschaftskreisen für viel Kummer sorgt.

Für Linnemann ist das ein Problem. Er und Spahn haben lange eng zusammengearbeitet. Das heisst: Linnemann organisierte die Unterstützung des Wirtschaftsflügels, Spahn stieg auf. Diese Arbeitsteilung funktioniert nicht mehr. Als der MIT-Chef kürzlich bei einer Sitzung der Verbandsspitze die Frage aufwarf, ob man den Minister auf dem Parteitag im Januar bei der Wahl für den Posten eines der stellvertretenden CDU-Chefs unterstützen solle, bekam er geballten Unmut zu hören. Spahn betreibe keine wirtschaftsfreundliche Politik, kritisierten Teilnehmer der Videokonferenz. Sein Bündnis mit dem als «Merkelianer» geltenden nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet habe alle überrascht, und nicht im positiven Sinne. Einen entsprechenden Bericht der «Welt» bestätigen mehrere führende MIT-Vertreter auf Nachfrage. Linnemann sei gesagt worden, dass er lieber selbst aufrücken und für einen Posten als stimmberechtigter Beisitzer im CDU-Vorstand kandidieren solle. «Hinter Carsten stehen wir zu einhundert Prozent», sagte ein MIT-Präsidiumsmitglied am Sonntag nach Weihnachten am Telefon.

Bleibt Friedrich Merz, der zentrale Kandidat von Linnemanns Verband. Was ist, wenn er Mitte Januar Parteichef wird? In der MIT träumen sie zusammen mit der Mehrheit der Parteibasis und der Jungen Union von einer neuen Ära, in der sich die CDU wieder deutlich von den linken Kräften im Land unterscheidet. Allerdings ist es zweifelhaft, dass Merz seine Partei im Falle eines Sieges einfach umkrempeln könnte. Es wäre für ihn eine Sache, im Wahljahr gegen drei linke Parteien und die AfD anzutreten, die alle nur darauf warten, ihn als vermeintlich gefühllosen Millionär zu verunglimpfen. Es wäre eine andere Sache, wenn er zugleich auch noch sämtliche Merkel-Anhänger in der eigenen Partei gegen sich hätte.

Die CDU ist zum Jahreswechsel eine andere Partei als die CDU vor Angela Merkel. Sie hat sich dem Machterhalt zuliebe nicht komplett, aber doch weitgehend in eine teils sozialdemokratische, teils grüne Partei verwandelt. Diese Veränderung hat offenkundig auch den einstigen Hoffnungsträger Spahn erfasst. Und ein Vorsitzender Merz müsste, um nicht sofort wieder abgesägt zu werden, wohl ebenfalls Kompromisse machen, und das nicht zu knapp. Carsten Linnemann, der erst den einen gefördert hat und nun den anderen unterstützt, bleibt bis auf weiteres nur die Rolle des Mahners.

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